Tadashi
Kawamata
Universelle Grenzgänge
von Ferdinand Ullrich
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Das 20. Jahrhundert
hat die Grenzen der Kunst in einem nie gekannten Maße ausgeweitet.
Wir haben uns daran gewöhnt, daß Alltagsgegenstände, die
in einem bestimmten Zusammenhang erscheinen, der Kunst zugeschlagen werden
können, seit die Kubisten Versatzstücke der Wirklichkeit in ihre
Bilder integrierten und schließlich Marcel Duchamp ein Urinoir in
einer Kunstausstellung als ein Werk der Kunst präsentierte. Kunst
wird also eine Frage der Perspektive.
Die Kunst hat seit Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmend
ihre verbindlich kanonisierte gesellschaftliche Funktion verloren und die
reine Abbildungsfunktion an die Fotografie abgeben müssen. Sie ist
in eine tiefe Identitätskrise geraten, die allerdings auch
heilsam war, weil nun nach dem eigentlich geistigen Gehalt der Kunst gefragt
werden mußte. Nicht mehr die äußere, optisch wahrnehmbare
Wirklichkeit konnte das Thema der Kunst sein, was es im übrigen so
ausschließlich auch nie war, sondern die Kunst hatte sich eine Wirklichkeit
zu erschließen, die jenseits der optischen bestand. Kunst versuchte
sich verstärkt den inneren Wirklichkeiten zu nähern, den Bereichen
menschlichen Seins, das sich hinter der Oberfläche des Sichtbaren
verbirgt. Impressionismus, Expressionismus, Abstraktion markieren die möglichen
künstlerischen Ansätze. Schließlich ist die Objektkunst
zu nennen, die das ußere, die Oberfläche selbst mit ästhetisch-künstlerischer
Bedeutung auflädt. Somit wird hier eine umgekehrte Reaktion deutlich.
Wenn schon die Kunst nicht mehr die äußere Wirklichkeit angemessen
repräsentieren kann, und die Abkehr von äußerer Wirklichkeit
in die inneren Welten als Flucht erscheinen muß, so muß man
die Grenzlinie von Kunst und Wirklichkeit, von Kunst und Leben aufheben.
Wirklichkeit wird selbst zu Kunst.
Daß ein solches Programm, das Kunst und Wirklichkeit
in eins setzt, immer auch nur eine Behauptung darstellt und an ihrem eigenen
utopischen Anspruch scheitern muß, spricht nicht gegen das Konzept,
das immerhin Kategorien des Seins versucht zu verbinden, die unversöhnlich
sich gegenüberstanden. Kunst wird hier zum Regulativ einer sich zunehmend
entfremdenden Welt.
Das Bewußtsein dieser Grenze ist ein wesentlicher
Impuls für künstlerisches Handeln. Die Auflösung dieser
Grenze mag zwar Ziel solcherart künstlerischer Strategie sein, aber
in der künstlerischen und gesellschaftlichen Praxis rückt die
Auflösung doch in weite Ferne, so lange jedenfalls, wie sich die Unvereinbarkeit
von ästhetischer und alltäglicher Wirklichkeit unabweisbar zeigt.
Die Auflösung und damit die Ganzheitlichkeit menschlichen und organischen
Seins bleibt eine künstlerische Utopie, die nicht oft genug thematisiert
werden kann. So lange ist ein Grenzgängertum, wie das von Tadashi
Kawamata, sinnvoll und notwendig.
Verschiedene Aspekte seines Werkes verdeutlichen die intensive
Auseinandersetzung mit den Beziehungen von künstlerischem und gesellschaftlichem
Handeln, ihrer möglichen Vereinbarkeit und tatsächlichen Unvereinbarkeit.
Betrachten wir zunächst die produktionsästhetische
Seite seines künstlerischen Werks, das mehr ist als das Erstellen
von autonomen, ästhetisch-sinnfälligen Exponaten.
Kawamatas bevorzugtes Material ist Holz, das, bevor
er es benutzt, schon in industrieller Fertigung zu Brettern, Kanthölzern,
Stempeln verarbeitet wurde. Holz ist als vorfabriziertes und möglicherweise
schon gebrauchtes Baumaterial für ihn von Interesse.
Holz wird als der ideale Baustoff wiederentdeckt. Es
ist einfach zu bearbeiten, ohne daß die Werkzeuge und Geräte
allzu kompliziert sein müssen, zudem ist dieses Material regenerierbar.
Aber keineswegs ist die Verwendung dieses Materials bei
Kawamata nostalgische oder romantische Rückerinnerung an ein ursprüngliches
Leben, in der es den Stahlbeton noch nicht gab. Vielmehr reibt sich seine
Produktionsweise sehr direkt und gewollt an einer Tendenz des zeitgenössischen
Bauens, bei der jenseits aller nachvollziehbaren Möglichkeiten nie
gekannte Bauformen möglich werden, die jeder Statik zu widersprechen
scheinen. Die Voraussetzung für seine Arbeit ist die in Stein, Stahl
und Beton gebaute Welt, zu der er einen Widerpart schafft.
Seine Arbeitstechnik ist mit der eines Künstlers
nur wenig noch vergleichbar. Er ist Arbeiter, Handwerker, allenfalls noch
Vorarbeiter eines Teams von qualifizierten Fachleuten, auf deren Kunstverständnis
es nicht eigentlich ankommt. Allerdings spielt die industrielle Arbeitsteiligkeit
eine eher geringe Rolle. Eine hochspezialisierte Arbeit ist nicht gefordert,
eher schon eine universelle handwerkliche Ausbildung und Erfahrung. Die
auszuführenden Arbeiten erfordern eine gewisse Geschicklichkeit und
eine Grunderfahrung mit Werkzeug und Material. Dieses bekommt man nicht
im Künstlerbedarfshandel, sondern im Fachhandel für die Bauindustrie
und in den so populär gewordenen Baumärkten. Leinwand, Pinsel,
Farbe werden ersetzt durch Säge, Hammer, Bohrmaschine, Nägel,
Schrauben und eben handelsübliches Bauholz.
Kaum ist der Arbeitsvorgang also von der Arbeit
auf einer normalen Baustelle zu unterscheiden. Zu dieser handwerklichen
Erfahrung gehört auch die Fähigkeit zur Improvisation, ein gewisses
Einfühlungsvermögen für die Möglichkeiten des Materials.
So liefert der Künstler auch keineswegs lediglich den Entwurf, dessen
Ausführung er den spezialisierten Handwerkern überläßt.
Es gibt
keinen solchen Entwurf im Sinne einer detaillierten Reinzeichnung.
Allenfalls finden sich grobe Ideenskizzen und auch die Modelle, die nur
der Vergegenwärtigung einer räumlichen Grundidee dienen. Eine
spezielle Ausführungsplanung findet nicht statt. Wie im mittelalterlichen
Handwerk spielt die Erfahrung, die nicht in einem Regelwerk, in Gesetzen
der Mathematik und Statik oder in einem Lehrbuch niedergelegt sind, eine
große Rolle.
Die Ausführung der nur skizzenhaften Grundideen
bleibt ein Akt der Gestaltung, die immer wieder neue Detailentscheidungen
erfordert. Jedes Stück Holz, das angebracht wird, berührt die
Hand des Künstlers. Hier verweigert sich Kawamata ganz bewußt
den Produktionsbedingungen hochindustrialisierter Gesellschaften. Er besteht
auf seinen Eingriffsmöglichkeiten im Verlauf des Machens.
Allein seine Erfahrung gestattet ihm, Material, Zeit-
und Arbeitsaufwand einzuschätzen und somit auch für die Lieferanten
und seine Förderer und Helfer planbar zu machen. Sein Werk entwickelt
sich im Laufe des Herstellungsprozesses genauso wie ein Gemälde, dessen
Grundkonzeption vorliegen mag, dessen Ergebnis aber doch mehr ist als nur
die ausgeführte Idee, mehr ist als "Kunst im Kopf".
Sein "Atelier" in Tokio ist nicht mehr als ein kleines
Büro, "on the table", von dem er zusammen mit Mika Koike
seine Unternehmungen organisiert und koordiniert. Sein wirklicher Arbeitsraum
ist aber die zivilisierte, vom Menschen gestaltete Welt, dort wo sie am
radikalsten die Spur des Menschen zeigt: in den Städten. An diesen
Orten ist er für einen begrenzten Zeitraum tätig, wie ein Industriearbeiter
"auf Montage". Will man in die archaischen Tiefen unserer Existenz dringen,
so kann man auch - wie oft geschehen - von Nomadendasein sprechen, obwohl
dies den modernen, absolut zeitgemäßen Aspekt in der Arbeitsweise
von Kawamata ausblendet. Doch ist nicht zu verkennen, daß die Art
und Weise, wie er vorgeht und sich seine Arbeit aussucht, etwas vom vorindustriellen
Wanderarbeiter hat, der nach der Beendigung seiner handwerklichen Arbeit
weiterzog, weil es mehr nicht zu tun gab, um am nächsten Ort seine
Dienste anzubieten.
Beides geschieht also: Verzicht auf die hochindividualisierte,
aber ganzheitliche und absolut selbstbestimmte Produktion des Künstlers
und der Verzicht auf die entfremdete, arbeitsteilige Arbeit, die unsere
Massenproduktion bestimmt. Kawamata bevorzugt die Mittelstellung, die ihm
erlaubt, beide diametral entgegengesetzten Sphären zu verschmelzen,
eine Position der "entschiedenen Indifferenz".
Weder Material noch Arbeitsweise nobilitieren also das
Werk Kawamatas. Allein aus seinem formalen Bestand und seiner geistigen
Kraft soll es bestehen und seine Wirkung entfalten.
Wenn auch die Produktionsbedingungen so gar nicht dem
Klischee von künstlerischer Arbeit entsprechen, so entstehen doch
Werke, die formalästhetisch "funktionieren" und Qualitäten aufweisen,
die sich sehr wohl mit Kriterien der Kunst beschreiben lassen. Denn zu
allererst sind Kawamatas Werke zwecklos. Sie dienen keinem Primärbedürfnis
des Menschen, und auch das normale Dekorations- oder Schmuckbedürfnis
läßt sich nicht ohne Widerstände befriedigen. So kommt
man nicht umhin - wenn man überhaupt etwas verstehen will -, die reine
Gestalt, ohne Rücksicht auf zweckrationale Gesichtpunkte, zu betrachten.
Dies erscheint auch hier insofern sinnvoll, als es ermöglicht, die
Differenz zur Wirklichkeit deutlich zu machen. Es gilt also, die Grenze
zwischen Kunst und Wirklichkeit für einen Augenblick zur Klärung
des ästhetischen Sachverhaltes sehr scharf zu ziehen.
Drei Typen von Arbeiten lassen sich unterscheiden:
1. die frühen Innenrauminstallationen, die meist einen intimen, privaten
Charakter tragen, 2. die zum Teil weitausgreifenden und aufwendigen Außenarbeiten,
die einzelne Gebäude behandeln oder auch ganze innerstädtische
Areale - diese Werke haben die größte Aufmerksamkeit erlangt,
ihn bekannt gemacht und 3. schließlich die unabhängigen "soziologischen"
Arbeiten, in denen er sich nicht mehr direkt an vorhandenen Bauten orientiert,
sondern selbst Behausungen entwirft, die sozusagen den kleinsten gemeinsamen
Nenner mit Architektur bilden, die Favelas, Hütten und Unterstände,
die nur kurze Zeit bestehen.
Alle diese Arbeiten haben, mehr oder weniger, gemeinsame
formale Grundzüge. Immer fügt Kawamata vorgefundenes, vorfabriziertes
Material zusammen und baut Gebilde, die man - bei Ausweitung des Begriffs
- als sehr primitive Architekturen bezeichnen kann.
Ein Geflecht aus Holz, zusammengehalten von Schrauben,
bietet einen etwas chaotischen Gesamteindruck. Linien, gebildet aus Brettern,
durchkreuzen sich, lassen auch da, wo sie vermeintlich exakte Formen ausbilden,
die erwartete Präzision vermissen.
Genauigkeit, Maßhaltigkeit, Abgestimmtheit sind
nicht die Qualitätskriterien dieser Konstruktionen. Diese "Ungenauigkeit"
hat etwas Skizzenhaftes. Viele seiner Konstruktionen sind wie dreidimensionale
Schraffuren, die mit breitem Stift in den Raum gesetzt sind.
Diese Linien verlassen und stören die vorhandenen
Richtungen, zumeist horizontal und vertikal, und schaffen eine unübersichtliche
und verwirrende Richtungslosigkeit. Aber daraus entsteht eine alles umfassende,
mitreißende Bewegung. Man hat den Eindruck, daß ein Wirbelsturm
alles durcheinander gebracht hat, aber in dieser Unordnung ist seine Spur
nachvollziehbar, die durchaus Regelhaftigkeit zeigt.
Diese Schraffuren schaffen in ihrer Vielzahl angesichts
der umhüllten Architektur eine gleichsam expressionistische Formübersteigerung
und -akzentuierung. Für sich genommen sind sie Teil einer Kunstauffassung,
wie sie der Abstrakte Expressionismus oder mehr noch das europäische
Informel der 50er Jahre ins Bild gesetzt haben. Hier ging es darum, ganz
unabhängig von gegenständlichen Motiven und surrealer Weltsicht,
einem "élan vital" Ausdruck zu verschaffen. Innere Wirklichkeiten
sollten hier ihr adäquates Bild erhalten, das der Surrealismus auf
andere Weise gestaltet hat. So hat auch der Zufall seinen Part in dieser
Kunstauffassung, weil auch das Unwillkürliche die Wahrheit in einem
stärkeren Maße transportieren kann, als es der Wille, der immer
interessegeleitet ist, tun könnte.
Aber hier wie dort wird man den Aspekt der Gestaltung,
der Komposition nicht vernachlässigen dürfen. Das Willkürliche
und der Zufall haben zwar ihren Stellenwert, aber doch geht es um die Evidenz
von Bildern, die ihre Verbindlichkeit allein aus ihrem ästhetischen
Gehalt schöpfen können und das heißt, aus ihrer Schönheit
und verbindlichen Form, "die Form der Zeckmäßigkeit ohne Zweck",
wie Kant es genannt hat. Man kann also von einer Zufallsstruktur sprechen,
die in ein rationales Konzept eingebunden wird, ein zivilisierter Zufall.
Räumliche Schraffuren schaffen Raumstrukturen,
wie sie die Bildhauerei klassischer Provinienz sich zum Thema gemacht hat.
Volumina werden umfaßt und ausgegrenzt, geöffnet
und geschlossen. Eine Haut entsteht, die ihr Inneres dennoch sichtbar läßt,
wodurch Überschneidungen entstehen, die wiederum eine enorme Tiefenräumlichkeit
entwickeln. Das Vorhandene (Architektur, städtischer Umraum) wird
so in seiner selbstverständlichen Form in Frage gestellt, indem eine
neue Form angeboten wird, deren Grundlage aber, die vorhandene Form, sichtbar
bleibt. Die alte und die neue Form werden in eine neue Beziehung gezwungen.
Das Vorhandene, das "Normale" wird in eine neue Perspektive gesetzt. Diese
Formzertrümmerung
wandelt sich aber in eine besondere, höhere Harmonie. Denn so sehr
diese Gebilde einen geradezu unversöhnlichen Kontrast bilden, wirklich
in Konfrontation stehen, so sehr sind sie auch aufeinander bezogen und
angewiesen. Sie entwickeln eine Beziehung des Vertrauens und des gegenseitigen
Respekts, weil deutlich wird, daß sie sich ergänzen und keineswegs
ausschließen. Wenn man also von Interventionen spricht, so sind dies
sehr heilsame Eingriffe, deren Motiv die Sehnsucht nach Einklang, Harmonie
und Vertraulichkeit ist, die angesichts unserer Städte nicht mehr
zu finden ist. So entsteht doch ein ausponderiertes Ganzes von eigentümlicher
Schönheit, in der jedes Element seinen notwendigen Ort hat, auch wenn
zunächst traditionelles Maß und gewohnte Proportionen aufgelöst
werden. Was bleibt, ist eine umfassende Maß-Losigkeit. Die sinnfällige
Überschreitung der vorgegebenen Baugrenzen, die verwirrende Vielfalt
der Richtung der Einzelelemente bringt die gewohnten Zusammenhänge
in Unordnung, bevor sich eine neue Qualität des Sehens und des Denkens
erst einstellen kann. Schließlich ensteht aus der offensichtlichen
Unordnung eine Ordnung höherer Qualität, die neue und größere
ästhetische und soziale Zusammenhänge schafft. Hier werden Hierarchien
abgebaut: das obere wird nach unten gekehrt. Der Abbau zum Klischee gewordener
Rangordnungen schafft zunächst eine Indifferenz, die optischen und
geistigen Orientierungspunkte fehlen.
Dies gilt schließlich für die "bescheidenen"
Arbeiten, jene Hütten und Behausungen, die er als "Field-Work" bezeichnet.
Ihre Schönheit ist zurückgenommen, das künstlerische Verfremdungspotential
nahezu unscheinbar, aber doch vorhanden und virulent. Er antwortet damit
auf die Gefahr der Dekoration, eine Gefahr, in der auch seine urbanen Projekte
stehen, weil sie in einer Gesellschaft enstehen, die in der Lage ist, ihr
eigenes Dasein zu stilisieren und damit auch zu ästhetisieren. So
vollführen seine Favelas und Obdachlosenbehausungen eine Mimikry
in Bezug auf die Kunst. Als Kunst sind diese Dinge eigentlich nur in der
fotografischen Dokumentation zu erleben.
hnlich setzen seine"Passagen" einen bewußten Kontrapunkt
zur vorschnellen sthetisierung. Hier werden Wege geschaffen, die man begehen
soll, um einen durchaus profanen Erkenntnisgewinn zu erlangen: die Lagerräume
von Ausstellungsräumen werden so sichtbar oder auch das Innere von
historischen Straßenbahnen, bei deren Durchgang man auch noch mit
dem Kommentar ehemaliger Straßenbahnfahrer konfrontiert wird, oder
es wird überhaupt ein Areal auf vorgeschriebenem Pfad zur Besichtigung
freigegeben, nicht unähnlich einer Führung durch eine landläufig
bekannte Touristenattraktion.
Diesem Gedanken der Passage von Innen nach Außen
und umgekehrt liegen auch seine tatsächlichen Passagen zugrunde (z.
B. Remise, Wien, 1995). Der Betrachter hat sich hier wirklich körperlich
zu bewegen, um die imaginative Bewegung von Innen nach Außen, von
Vorn nach Hinten nicht nur gedanklich nachzuvollziehen.
Wenn man die Arbeiten Kawamatas aber als Architektur betrachtet,
also als Zweckding, so verbietet sich die "l'art pour l'art" Perspektive
ohnehin (auch wenn man inzwischen anderes gewohnt ist). Architektur ist
eine angewandte Kunst. Immer sind auch - mehr oder weniger - Zwecksetzungen
vorhanden. Der Gebrauchswert gehört zur Definition von Architektur,
der Kunstwert kommt in glücklichen Augenblicken hinzu. Kawamata macht
da aber keinen Unterschied. Die ambitionierte Architektur ist ihm genauso
lieb wie die durchschnittliche Allerweltsarchitektur, ist sie doch der
eigentliche Ausdruck menschlicher Bedürfnisse, an dieser Stelle gerade
auch der ästhetischen. Hier ist also die rezeptionsästhetische
Komponente von großer Bedeutung, die im Werk Kawamatas ohnehin eminent
wichtig ist. Kawamata bevorzugt neben den einfachen Materialien auch simple
statische Gegebenheiten. Das Tragen und
Lasten seiner Konstruktionen ist immer auch zu sehen.
Nichts soll verborgen oder verhüllt werden. Dies ist der Unterschied
etwa zur Konzeption von Christo, der etwas ganz anderes und neues machen
will, bei dem die architektonische Vorgabe lediglich das Ausgangsmotiv
ist, das schließlich verschwindet, eigentlich zur Nebensache wird.
Kawamata zeigt nicht nur die Hülle mitsamt ihren Daseinsbedingungen,
auch sein Ausgangsmotiv, das der Anlaß seiner Gestaltung ist, hat
als Kern seiner Konstruktion elementare statische und ästhetische
Funktion.
Die Werke Kawamatas "umspielen" die Gebäude, kommen
ihnen aber nicht eigentlich zu nahe. Immer scheinen sie auf Gebäude
und architektonische Zusammenhänge zu antworten. Kawamata respektiert
immer das Vorhandene. Er will es nicht besser machen. Er akzentuiert, schält
Aspekte heraus, verdeutlicht. Auch eine gewisse Verzauberung geschieht,
aber immer gibt es ein Wechselspiel zwischen dem künstlerischen Eingriff
und der bestehenden Architektur. Die Bedeutung der Architektur spielt dabei
keine große Rolle, denn jedes Gebäude hat seine sehr eigene
Geschichte. Kawamatas Meta-Architekturen thematisieren Architektur mit
den Mitteln der Architektur: Konstruktion, Statik, Raum, Innen-Außen.
So bleiben die Werke von Kawamata Baustellen, die schon
wieder verschwunden sind, wenn man noch vergeblich auf die Fertigstellung
wartet. Wie ein spontaner kurzfristiger Gedanke erscheint sein Werk, das
sich jeden Pathos und jede Monumentalität versagt.
Bei Kawamata ist Architektur eine optimistische Metapher
menschlicher Verhältnisse. Seine Utopie ist eine ästhetisch-soziale
und keine ästhetizistische. Während Kawamata sich noch abmüht
und keine physischen, psychischen und intellektuellen Mühen scheut,
seine Aufklärungsarbeit zwischen Kunst und Leben ins Werk zu setzen,
sind die postmodernen, dekonstruktivistischen Architekten schon längst
angekommen: zu schnell.
Im Blick auf die vertikal-horizontal strukturierte Welt
unserer zivilisierten Städte erscheinen Kawamatas Konstruktionen absurd,
sie greifen die elementare Formauffassung des modernen Lebens an. Nachdem
Kawamata eingegriffen hat, erscheint die gewohnte architektonische Kulisse
aber nicht weniger absurd. Alte Gewißheiten geraten ins Wanken. Ein
solche Erkenntnis ist möglich, wenn Kawamata sein "Project on Roosevelt
Island, 1992" vor der grandiosen Kulisse von Manhattan realisiert: David
kämpft gegen
Goliath. Weniger dramatisch, aber um so irritierender
wirkt sein hölzernes "Frauenbad" in der Limmat vor der Kulisse der
Altstadt von Zürich, 1993.
Das Werk von Kawamata ist also nicht so sehr der Architektur
zuzuschlagen, sondern es ist eher ein Werk der Kunst über Architektur.
Es findet eine Entkategorisierung statt, ein neues Denken zwischen den
Stereotypen unseres Alltags. Auch diese Gattungsverschiebung oder -auflösung
charakterisiert das Leben zwischen oder über den Kategorien herkömmlicher
Wahrnehmung von Kunst und Architektur. Kawamata spricht in diesem Zusammenhang
von der "Brücke zwischen den Kategorien". Vielleicht kann man auch
von einer temporären und momentanen Deckungsgleichheit sprechen. Denn
stärker noch als Affinitäten und quivalenzen findet hier die
Identität des Heterogenen statt, die Ununterscheidbarkeit und damit
die Auflösung der Differenzen: das Ideal der Einheit von Kunst und
Leben angesichts der Unauflöslichkeit dieser Differenz, eine Sisyphusarbeit.
Angesichts der solide gebauten Architekturen scheinen
die provisorischen Umhüllungen Kawamatas weniger ephemer als vielmehr
unabweisbar. So wie das Chaos in Schönheit umschlägt, so verschmilzt
das Beiläufige mit dem Notwendigen.
Aber Schönheit konstituiert sich durch Form, die
sich der Zwecksetzung entzieht. "Schönheit ist, was ohne Begriff allgemein
gefällt", hat Kant gesagt und damit einer unabhängigen sthetik
als autonomen Erkenntnismöglichkeit den Weg geebnet. Und so muß
man das Werk von Kawamata auch betrachten: Es interveniert mit formalen
Mitteln, entreißt die Welt der bloßen zweckrationalen Bestimmung
und schafft ihr so neue, ästhetisch-moralische Daseinsberechtigung.
Aber die zweckrational bestimmte Welt ist das Motiv, der
Beweggrund für Kawamatas Denken. Der klassische "l'art pour l'art"
Standpunkt ist hier fehl am Platze. Unweigerlich wird man auch über
das Umfeld, die Grundbedingungen dieser Kunst reden müssen.
So sind neben der formalästhetischen Betrachtung
die sozialen, historischen Gesichtspunkte von eminenter Bedeutung. Für
das Publikum sind seine architektonischen Gebilde Aggregate eines neuen
Denkens, das auch dann noch vorhält, wenn der Denkanlaß längst
wieder verschwunden ist. Erinnert wird eine Verunsicherung: Erwartungen
werden provoziert und dann in eine ganz andere Richtung umgeleitet. Die
Baustelle führt zu keinem Ergebnis, sie ist das Ergebnis selbst, sie
ist eine Idee. Kawamatas Kunst ist
insofern eine Bewußtseinskunst: ein wesentlicher
Teil findet im Kopf des Betrachters statt, ausgelöst durch einen temporären
visuellen Eindruck.
In den Formstrudel aus Brettern und Balken werden nun
die gesamte Umgebung,
die Architektur aber auch die Menschen hineingezogen.
Es entsteht eine Zentrifugalkraft optischer und geistiger Art. Alles scheint
nun in Bewegung zu geraten. Nicht nur der von Kawamata geschaffene Bau,
sondern auch alles drumherum bekommt eine allenfalls transitorische Existenz,
nur vorübergehend, niemals für die Ewigkeit bestimmt. Die Kunst
Kawamatas vermittelt uns diese Erkenntnis nicht nur ("Ars Longa, vita brevis"),
wofür wir viele Beispiele kennen, sie demonstriert sie sozusagen am
"eigenen Leib". Sie selbst ist als Teil des Lebens vergänglich und
kehrt unser Bild der Kunst um. Unvergänglich an der Kunst ist nicht
ihr materieller Bestand, sondern ihre Idee.
Die Kunst Kawamatas ist insofern ein memento mori, das
uns aber nicht verzweifeln läßt, weil es Hoffnung vermittelt.
Auch wenn alles vergeht, so bleibt doch auch alles, das ist der Gedanke
des Kreislaufes. Nichts geht verloren, auch wenn alles verloren zu gehen
scheint.
Wenn Kawamata seine Arbeiten als "Lärm" bezeichnet
angesichts eines alles ausgleichenden Geräuschpegels, der die mögliche
Dynamik auf das Maß zurückschraubt, das dem Durchschnitt entspricht,
also die Welt zurechtstutzt auf das Mittelmaß, so muß man diesen
Begriff, so wie den des "visuellen Terrorismus", als eine gewisse Ironie
verstehen. Denn seine Arbeiten haben - genau besehen - nichts von Aufdringlichkeit,
von Anarchie und Chaos. Sie verweisen allerdings auf eine Ordnung und Schönheit
jenseits der nur mediokren und allenfalls vermittelten Bilder unserer Mediengesellschaft.
Insofern kann man auch nicht von einer parasitären
Natur in Kawamatas Arbeiten sprechen. In der Tat findet ein Eingriff statt,
der aber sehr behutsam geschieht. Immer nimmt der Künstler Rücksicht
auf die Gestalt, die Geschichte und die Menschen eines Ambientes, in dem
er arbeiten will. Diese Rücksichtnahme ist Grundbedingung seiner Arbeit
und macht ihre wesentliche Qualität aus.
So hat man etwa den Eindruck bei seinem Projekt "Begijnhof
Kortrijk" 1990, daß seine Holzkonstruktion den historischen Beginenhof
eher umschmeichelt, ihm auf alle Fälle seine innere Würde und
Ruhe bewahrt. Von Lärm und visuellem Terror keine Spur, jedenfalls
dann nicht, wenn man sich darauf unvoreingenommen einläßt. Aber
in der Tat gibt es auch andere Beispiele: sein "Toronto Project 1989" muß
sich sehr viel "lauter" aufführen als es in Kortrijk möglich
und nötig war. In Toronto mußte sich seine Arbeit gegen zwei
neo-klassische Gebäude behaupten, die seine Arbeit einzwängten.
Hier war es nötig, die vorhandene Bauflucht zu sprengen und seine
Arbeit daraus herauswachsen zu lassen wie ein unkontrollierbar gewordenes
Geschwür. Aber die Fragilität der Konstruktion nahm wieder viel
von der Aggressivität zurück und wirkte versöhnlich, gleichsam
wie eine Entschuldigung für das ungehörige Treiben inmitten der
bewohnten Stadt. Die artifizielle Identität eines städtischen
Platzes oder Gebäudes wird aufgebrochen und auf seine "Eigentlichkeit"
befragt: Was bedeutet dieser Platz, welche Geschichte hat er, wie wird
er genutzt, wie kann er in Zukunft genutzt werden, was denken und fühlen
die Menschen? Es entsteht eher eine Beziehung symbiotischer Natur: Architektur
regt seine Arbeit an, seine Kunst eröffnet neue, nie gekannte Perspektiven
auf die Architektur und ihren physischen, psychischen und geistigen Umraum.
Kawamatas Werke verdeutlichen und exerzieren ein elementares,
menschliches Vermögen: die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt
zu wechseln und sogar sich selbst zum Objekt der Betrachtung zu machen.
Dieser Grenzgang zwischen Subjektivität und Objektivität bestimmt
sein Denken und Werk. Dieses Vermögen der "Exzentrizität" verdeutlicht
sein Werk durch einen exzentrischen Formenkanon, der dialektisch die Grenzen
sprengt und die Gegensätze auflöst. So ist es gleichermaßen
abstrakt wie konkret. Er setzt Innen und Außen in eins, löst
die Grenzlinie von Kunst und Wirklichkeit auf, von Geschichtlichkeit und
Gegenwärtigkeit. Das Temporäre und das Dauernde gehen eine Verbindung
ein. Aus dem gleichen Vermögen erwächst Geschichte und Utopie,
wie auch die gesellschaftliche Organisation, die Regelhaftigkeit des menschlichen
Zusammenlebens.
Wenn man Kawamata als Grenzgänger bezeichnet, so
heißt das nicht, daß er sich zwischen den Grenzen, also im
Niemandsland bewegt. Sein Aktionsraum ist nicht die Peripherie, sondern
die Mitte der modernen Welt.
top
sidewalk
home
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